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Grundgesetz geht in Rente – In Leipzig längst im Vorruhestand – Stadträte tragen Partei-Maulkorb

Leipzig, 23. Mai 2014 – Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird am Freitag 65 Jahre alt. Als es am 23. Mai 1949 mit dem allerhöchsten Segen der westalliierten Siegermächte in Kraft gesetzt wurde, ahnte niemand, dass es ein Menschenleben lang als Provisorium Anwendung findet. 

In Leipzig besteht eine Sondersituation. Die Administration der Stadt der friedlichen Revolutionäre hat die Notverordnung, die manch nützliche Grundregel enthält, längst aufs Altenteil geschickt. Sobald mündige Bürger das Grundgesetz im Einzelfall beim Wort nehmen und seine Anwendung einfordern, greifen mindestens betretenes Schweigen und allgemeine Untätigkeit in den Führungsetagen um sich. Bei der Wahl des Oberbürgermeisters (OBM) von Leipzig Anfang vergangenen Jahres wurden geradezu sämtliche diesbezüglich relevanten Regeln des Grundgesetzes über Bord geworfen. Die konkreten Umstände der Kandidatur von sieben parteilosen und unabhängigen Einzelbewerbern lassen nicht nur  Missachtung vermuten, sondern sogar auf Verachtung des Grundgesetzes schließen. Deren Zulassung zur Wahl wurde ohne einleuchtende Begründung abgelehnt, Beschwerden mehrfach zurückgewiesen. Hartnäckige wehrten sich dagegen mit Anfechtungsklagen gegen die Leipziger OBM-Wahl. Drei solcher Klagen haben inzwischen die zweite Instanz, das Sächsische Oberverwaltungsgericht, erreicht. Die umstrittene Wahl ist also weiterhin nicht rechtsgültig. Dennoch verpflichten nach mehr als einem Jahr die Stadträte von Leipzig den nicht rechtsgültig gewählten Burkhard Jung als Oberbürgermeister. Es ist offensichtlich eine hilflose Trotzreaktion. Entweder verstoßen sie damit bewusst gegen das Recht oder sie kennen es gar nicht. In jedem der beiden Fälle liegen schwerwiegende Rechtsverstöße im Allerheiligsten eines sich demokratisch nennenden Systems – der Wahl – vor. Der Skandal vergrößert sich, indem die Stadträte samt und sonders ohne Ausnahme auf schriftliche Nachfragen und Protestschreiben eines Klägers keinerlei Reaktion zeigen. Per Boten – mit Eingangsstempel bestätigt – im Neuen Rathaus am 15. April und 15. Mai dieses Jahres abgegebene Schriftstücke werden schlicht und ergreifend von jedem der 64 Leipziger “Volksvertreter” ignoriert. Die jüngste Antwortfrist lief vor zwei Tagen fruchtlos ab. Und das wiederum unmittelbar vor der Stadtratswahl am nächsten Sonntag. Untrüglich ist: in Leipzig beherrscht lückenlose Parteiräson die Kommunalpolitik, jedem Stadtrat wurde ein Maulkorb verpasst. Es ist eine peinliche Nähe zu den Blockparteien der DDR und deren zur Wahl aufgestellten “Kandidaten der Nationalen Front” zu verzeichnen. Die viel beschworene Unabhängigkeit, Meinungs- und Gewissensfreiheit von gewählten Abgeordneten ist auf weniger als die Winzigkeit eines Zwerges zusammengeschrumpft. Eventuell befinden sich Leipzigs Stadträte bereits im Stadium des “inneren Widerstands” gegen geltendes Recht und gegen freie, mündige Bürger. Das Beispiel der Leipziger OBM-Wahl könnte weitere pervertierte Versionen von  Demokratie liefern. Viele der derzeitigen Stadträte, die bis jetzt in der so bedeutungsvollen Frage der OBM-Wahl schweigen und untätig sind, kandidieren auch für die nächste Ratsversammlung – trotz ihres Totalversagens.

 Nicht nur Leipzig dümpelt in Demokratie-Agonie. Der Staats- und Verfassungsrechtler Prof. Eberhard Eichenhofer aus Jena stellt zu dem Dilemma fest: “Die deutsche Vereinigung  wurde als Beitritt der DDR zum Grundgesetz vollzogen. Dies bedeutete, dass die Verfassungs- und Rechtsordnung der alten Bundesrepublik auf die DDR erstreckt wurden und zwar unter vollständiger Aufhebung aller DDR-Gesetze ! Was ‘deutsche Einheit’ genannt wird, war also die Osterweiterung Westdeutschlands !” Dies führe zu der Frage, ob die Menschenrechte hinreichend gewährleistet sind. Im Falle Leipzigs kann sie eindeutig mit “Nein” beantwortet werden. Schließlich hat einer der Anfechtungskläger der OBM-Wahl in Leipzig einen umfangreichen menschenrechtlichen Argumentations-Katalog gegen das Wahlprozedere beim Gericht vorgelegt, in deren Mittelpunkt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und zahlreiche gültige Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg stehen. Diese Schriftsätze wurden nochmals allen Leipziger Stadträten am 15. April 2014 zugestellt – ohne jegliches Echo. Der Stadtverwaltung, ihrem Rechtsamt und der Landesdirektion Sachsen (LDS) liegen diese Dokumente noch vieler länger vor. Auch diese Behörden reagieren auf deren Inhalt nicht, obwohl sie dazu vom Gericht aufgefordert wurden.

Angesichts dieses demokratischen Debakels werden auch am kommenden Sonntag noch weniger Bürger als zuvor zur Wahl gehen. An der OBM-Wahl Leipzig 2013 haben beispielsweise nur 34 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen. Eine erschreckende Minderheit. Die Spaltung der Gesellschaft und die Kapitulation des Rechtsstaates haben also längst stattgefunden – auch auf kommunaler Ebene. Partei-Marionetten haben ihn ruiniert. Eine stabile und zukunfstträchtige Lösung ist nur noch von einer selbstbestimmten Bürgerschaft und der Zivilgesellschaft mit eigenverantwortlichen und unabhängig handelnden Mitgliedern zu erwarten. Dafür müssen neue Grundlagen geschaffen werden. ++  (gg/mgn/23.05.14 – 006)

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